Grensing

Business Technology Consulting GmbH

SAP-Grundbegriffe - Das Werk

2020-06-26

Es ist einer der wenigen wirklichen Vorteile eines Greenfield-Projekts, dass über zentrale und grundlegende Dinge gesprochen wird, die ansonsten gegeben und unveränderlich im Raume stehen.

Eines dieser Themen ist die Definition des "Werks" in der Grundkonfiguration von SAP S/4-HANA.

Das Werk - definiert in Tabelle T001W - ist das zentrale Organisationselement für alle Vorgänge in Logistik und Supply Chain Management: jeder Kundenauftrag, jede Einkaufsbestellung, jeder Fertigungsauftrag und jede Bestandsbuchung benötigen ein "Werk". Über die eindeutige Zuordnung zum "Buchungskreis" - also der bilanzierenden Einheit - wird die Verknüpfung des logistischen mit dem finanziellen Vorgang - und damit die so wertvolle Integration logistischer und finanzieller Unternehmensprozesse - hergestellt, die von Anfang an den Erfolg der SAP-Lösungen ausmachte.

Das Werk ist die Voraussetzung für einen nicht unbeachtlicher Anteil der Konfiguration der Logistikmodule. Auch werden die meisten logistische Stammdaten immer in Bezug auf ein Werk ausgeprägt. Im Werk wird die finanzielle Bewertung eines Materials bestimmt, das Werk grenzt die durch die Bedarfsplanung berechneten benötigten Mengen ab und ein Werk hat eine Adresse, die man beliefern kann.

Wie Werke in der Praxis definiert werden sollten, ergibt sich also aus seiner Funktionalität: jeder logistisch relevante Standort mit eigener Adresse und Zuordnung zu einer bilanzierenden Einheit ist ein eigenes Werk. Oder anders ausgedrückt: wenn der Transport eines Materials von Standort A nach Standort B über öffentliche Straßen führt und ordentliche Lieferpapiere benötigt, dann sind A und B separate Werke.

Was so einfach klingt, führt in der Praxis immer wieder zu heftigen Diskussionen. Denn die SAP-Standardfunktionalität verfügt über zahlreiche Möglichkeiten, Prozesse auch anders zu definieren. Daraus ergeben sich zwei Fragen:

  1. Gibt es Gründe, an einem Standort mehrere Werke zu definieren?

  2. Gibt es Gründe, an einem separaten Standort kein eigenes Werk zu definieren?

Mehrere Werke an einem Standort

Der naheliegende Grund, mehrere Werke an einem Standort zu haben sind mehrere Buchungskreise: gibt es eine Produktions-GmbH und eine Vertriebs-GmbH am gleichen Ort, benötigt man zwei Werke, die den jeweiligen Buchungskreisen zugeordnet sind. Aber auch wenn unterschiedliche Unternehmensaktivitäten in nur einem Unternehmen vereint sind, gibt es Argumente, diese Aktivitäten auf mehrere Werke aufzuteilen. Aber sind diese Argumente stichhaltig?

  • Bestandsreporting: Verfügen unterschiedliche Geschäftsbereiche über Bestände unterschiedlicher Materialien am gleichen Standort, ist die Anforderung, diese separat zu berichten kein Grund für ein eigenes Werk: aus finanzieller Sicht sollten die Geschäftsbereiche über unterschiedliche Profit-Center dargestellt werden, aus logistischer Sicht können Lagerorte, die globale Produkthierarchie, das Profit-Center oder andere Klassifizierungsmerkmale die Unterscheidung bewirken.

  • Bewertungsunterschiede: Sollen unterschiedliche Qualitäten eines Materials finanziell unterschiedlich bewertet werden - zum Beispiel eigengefertigte und fremdgefertigte Bestände - könnte die Idee aufkommen, diese Bestände an einem Standort in unterschiedlichen Werken zu führen, da sie dort jeweils separat zu unterschiedlichen Preisen bewertet werden können. So vorzugehen ist aber normalerweise nicht sinnvoll, da es dafür das Werkzeug der getrennten Bewertung gibt, mit dessen Hilfe verschiedene Bestände des gleichen Materials finanziell unterschiedlich behandelt werden können.

  • Industriepark: In großen Industrieparks werden Teilbereiche organisatorisch gerne als separate "Werke" oder "Betriebe" geführt. Daher scheint es naheliegend, dies auch in SAP so abzubilden. Jedoch ist der Nutzen einer solchen Vorgehensweise in aller Regel so klein, dass er die Nachteile der damit massiv erhöhten System- und Prozesskomplexität nicht rechtfertigen kann: ein Werk und optional die Nutzung von Dispositionsbereichen ist in diesem Fall die einfachere Alternative, die favorisiert werden sollte.

  • Bestandsplanung: An einem Standort befinden sich die Produktion für den weltweiten Markt und ein regionales Vertriebslager. Dann sollte der regionale Vertriebsplaner nicht ohne weiteres die Bestände des globalen Nachschubs für seine Zwecke verbrauchen dürfen. Also müssen die Bestände getrennt werden, wozu es zwei Möglichkeiten gibt: das Vertriebslager kann - unterhalb der Ebene des Werks - einem separaten Lagerort zugewiesen werden und dieser Lagerort erhält einen eigenen sogenannten Dispositionsbereich. Die andere Möglichkeit ist ein eigenes Werk. Dispositionsbereiche sind eine sehr nützliche und hilfreiche Methode, innerhalb eines Werks Materialien separat zu planen. Jedoch ist der Dispositionsbereichen ein (ansonsten nicht benötigtes) separates Organisationselement, das nur im Rahmen eines an mehreren Standorten genutzten einheitlichen Standardprozesses verwendet werden sollte, um sich nicht mit einer Vielzahl von Prozessvarianten zu verzetteln. Gerade wenn Vertriebsläger an anderen Orten normalerweise eigenständig sind und als eigenes Werk beplant werden, macht es wenig Sinn, ein einzelnes Vertriebslager plötzlich als Dispositionsbereich zu führen, nur weil an einem Standort zusätzlich weitere Produktionsaktivitäten erfolgen und ansonsten Dispositionsbereiche nicht genutzt werden. Es kann also - wie in diesem Fall - tatsächlich sinnvoll sein, an einem Standort mehrere Werke zu haben, auch wenn dies zu einer unter Umständen leicht höheren Komplexität führt.

Ein Werk an mehreren Standorten

Ein neues Werk anzulegen oder ein nicht mehr benötigtes Werk stillzulegen, ist mit relativ viel Aufwand verbunden: Konfiguration, Stammdaten, Berechtigungen etc. müssen dafür angepasst werden. Von daher stellt sich die Frage, wann - insbesondere unter Berücksichtigung, dass sich hier die Anforderungen laufend dynamisch ändern könnten, die Nutzung separater Werke vermieden werden kann, auch wenn mehrere physische Standorte an unterschiedlichen Adressen betroffen sind:

Grundsätzlich ist es möglich, ein Werk an unterschiedlichen Standorten zu betreiben: jeder der dem Werk untergeordneten Lagerorte verfügt über eine eigene Adresse und es gibt den Prozess der Umlagerungsbestellung Lagerort an Lagerort, womit eine ordentliche Belieferung mit dem Standard-Auslieferungsbeleg und allen seinen verbundenen Logistikprozessen möglich ist. Auch ist die automatische Nachschubberechnung in der Bedarfsplanung durch die Nutzung von Dispositionsbereichen problemlos gewährleistet. Jedoch gibt es ein buchhalterisches Problem: aufgrund der Bilanzierungsregeln umfasst der Bewertungspreis eines Materials immer auch seine Transportkosten. Wird nun ein Material an unterschiedlichen Standorten gleich bewertet, hat aber unterschiedliche Transportkosten, bedarf dies zumindest einer Begründung oder sollte den Ausnahmefall darstellen.

Bei einer Reihe von Fällen wird trotz abweichendem Standort in aller Regel kein eigenes Werk angelegt. Dazu gehört die angemietete Lagerhalle im Nachbarort, in der kurzfristig Packmittel zwischengelagert werden oder die Ersatzteile im Kofferraum der Kundenservice-Techniker.

Diskussionswürdig sind jedoch die neu gebaute Produktionshalle auf der anderen Seite der Bundesstraße im neuen Gewerbegebiet oder Werk 1 und Werk 2 am jeweils anderen Ende der Stadt.

Definitiv separate Werke sind jedoch regionale Vertriebslager.

Einschub: wie machen es SAP-Branchenlösungen?

Es gibt zwei SAP-Branchenlösungen, bei denen dynamisch eine große Zahl von Standorten hinzugefügt und wieder entfernt werden: das ist einmal die Retail-Lösung, in der zusätzliche Ladengeschäfte verwaltet werden müssen, und die Verteidigungslösung für Streitkräfte, bei der zusätzliche Standorte hinzukommen und wieder verschwinden. Im ersten Fall erhalten Werke den Status von "Stammdaten" - können also anstatt im Customizing im Produktivsystem gepflegt werden, im zweiten Fall spielt der Bewertungsaspekt keine Rolle, von daher werden nicht Werke, sondern Lagerorte dynamisch verwaltet.

Sonderfall: Das unbewertete Werk

Das unbewertete Werk ist ein Sonderfall von "mehrere Werke an einem Standort": im Fall dass eine große Zahl von Lagerbeständen des eigenen Lagers tatsächlich das Eigentum von Dritten darstellt, aber trotzdem logistisch verwaltet werden soll, bietet sich die Lösung des unbewerteten Werks an. Das ist ein Werk, bei dem im Customizing alle Materialarten auf "unbewertet" gestellt werden und daher keine finanzielle Bewertung der Lagerbestände erfolgt. Dies wird gerne genutzt, wenn beispielsweise eine große Zahl von Kundenbeständen zum Zweck der aktiven Lohnbearbeitung vorhanden sind und die Verwendung des unbewerteten Kundeneinzelbestands unzweckmäßig ist oder Bestände anderer Konzernunternehmen, deren finanzielle Bestandsführung in einem anderen SAP-Mandanten oder nicht-SAP-System erfolgt, logistisch geführt werden sollen.

Sonderfall: Das Werk im Ausland

Lagerbestände einer bilanzierenden Einheit außerhalb der eigenen Landesgrenzen sind aus steuerlicher Sicht meistens problematisch und laden daher zu kreativer Nutzung ein - weshalb sich auch die OECD in ihrer BEPS-Initiative bereits intensiv um dieses Thema kümmerte. In SAP-Projekten führt das Thema regelmäßig zu Schweißausbrüchen, wenn eine Woche vor go-live der Logistikleiter darauf hinweist, dass seit letzten Montag ein neues Vertriebslager bei einem Kunden in Lampukistan eingerichtet wurde, das finanziell selbstverständlich zum Mutterhaus in Deutschland gehört und man erwarte, dass dies "selbstverständlich" in SAP so problemlos abbildbar sei.

Für diesen Fall gibt es das "Werk im Ausland", dessen Konfiguration dazu führt, dass zu Lieferungen aus Umlagerungsbestellungen eine "Pseudo"-Faktura erstellt wird, die dann zur Ermittlung der Umsatzsteuer und der Intrastat-Meldung herangezogen wird. SAP empfiehlt die Nutzung des Werks im Ausland ausschließlich im Rahmen von EU-Staaten, technisch wird dies allerdings nicht erzwungen. In aller Regel ist die Nutzung des Werks im Ausland immer mit Entwicklungsaufwand verbunden, da die genutzten Szenarien selten durch den vorhandenen Funktionsumfang abgedeckt werden.

Fazit

Eine sinnvolle Definition des Werks ist enorm wichtig für das reibungslose Funktionieren von SAP-unterstützten Supply Chain- und Logistikprozessen. Daher sind einheitliche und sachgerechte Kriterien wichtig, die global einheitliche oder vergleichbare Prozesse auf der Basis gleicher Funktionalitäten unternehmensweit gewährleisten. Das erfordert ein tiefes Verständnis für die Unternehmensprozesse und Erfahrung mit den funktionalen Fähigkeiten und Beschränkungen in SAP. Gerne stehe ich Ihnen dabei zur Verfügung.